Das theoretische Manifest von Jura Gentium

[Theoretische Forschung] [Interkultureller Dialog] [Verbreitung und didaktische Assistenz]

1. Theoretische Forschung

Hauptgegenstand der theoretischen Reflexionen von JURA GENTIUM sind die Transformationen der Struktur und der Funktionen des Völkerrechts. Diese werden durch Computerisierungs- und Globasierungsprozesse und deren Auswirkungen auf die Beschaffenheit der Internationalen Beziehungen ausgelöst. Methodologisch ist hierbei der realistische und pluralistische Ansatz von besonderer Bedeutung.

Der realistische Ansatz stellt sich dem abstrakten Normativismus und jeder Art von "Reinheit" nationaler oder internationaler Rechtsordnungen entgegen. Dies erweitert die Analyse um den Bereich der " globalen Politik", einschließlich des Studiums kultureller, politischer, wirtschaftlicher und militärischer Verteilungsmechanismen von internationaler Macht. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen dabei die politischen Strategien der Nationalstaaten, insbesondere der Großmächte, die Funktionsweisen internationaler Organisationen, Krieg und Frieden, internationale Ressourcen- und Reichtumsverteilung, der Umweltschutz, sowie der internationalen Terrorismus.

Der pluralistische Ansatz stellt sich sowohl dem traditionellen Etnozentrismus der westlichen Rechtswissenschaften als auch dem "legal globalism" entgegen. Entgegen dieser Tendenzen, wird das Augenmerk auf die Besonderheiten und Unterschiede der Rechtstraditionen gerichtet. Dies geschieht auf der Basis der Annahme, dass auch in der Welt des Rechts die Komplexität und die Differenzierung evolutive Ressourcen sind, welche die Bedingung der Identität politischer Gruppen und individueller Autonomie darstellen.

Im Besonderen fördert JURA GENTIUM die Forschung in folgenden Bereichen:

1.1. Der Übergang vom "Völkerrecht" (Westfälisch und Grotianisch) zum "transnationalen Recht": Die Konsequenzen der Souveränitätskrise der Nationalstaaten für seine Institutionen. Insbesondere für sein Rechtssystem und jener Werte, welche unter dem Etikett des Rechtsstaats und der repräsentativen Demokratie firmieren. Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Konzeption eines transnationalen Rechtsstaates und einer transnationalen Demokratie.

1.2. Die Entstehung neuer Rechtssubjekte neben den Nationalstaaten in der internationalen Arena: Multinationale Unternehmen, quasi-institutionelle Organisationen (wie z.B. die OSZE, G8, OECD). Regionale Verbände, NGOs, militärische Bündnisse (wie z.B. die Nato), Protestbewegungen etc.

1.3. Das Erscheinen neuer Völkerrechtsquellen: Transnational law firms- Internationale Großkanzleien mit Tätigkeitsschwerpunkten in Handels-, Steuer-, und Finanzrecht. Die neuen Formen der lex mercatoria, die Schiedsgerichtshöfe, die internationalen Strafgerichtshöfe. Der europäische Gerichtshof, der europäische Gerichtshof für Menschenrechte, zentralisierte Bürokratien, die nationalen Verfassungsgerichte als effektive Rechtssetzungsinstanzen im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses.

1.4. Privatisierungstendenzen im Völkerrecht: Die abnehmende Regulierungsfähigkeit der Nationalrechtsordnungen- insbesondere in den Bereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik, sowie in der Außenpolitik. Die Überlagerungen von dynamischer und innovativer Entscheidungsmacht durch die Kräften des Marktes. Das Recht als vielschichtiges, flexibles und pragmatisches Kontrollinstrument im Umgang mit den Risiken internationaler, von Unsicherheit dominierter, Transaktionen. Das Gesetz als generell-abstrakte Normierung wird zum Auslaufmodell, während sich auf nationaler und internationaler Ebene die gerichtliche - und die Schiedstätigkeit ausdehnt.

1.5. Regionale Integrationsprozesse, insbesondere in Europa. Die wachsende Belastung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Gleichgewichte durch regionale Integrationsprozesse. Die daraus folgende Umstrukturierung der Weltordnung. Die möglichen Modelle einer derartigen Strukturierung: Das kosmopolitische Paradigma der Vereinigung und politischen Hierarchisierung des Planeten (western globalists), das Modell föderalistischer und polizentrischer governance (die Befürworter der international regimes theory, sowie des clash of civilizations, die Neorealisten). Das Projekt neo-liberaler Deregulierung und die zukünftige, ausschließliche Zuschreibung von Souveränität an die Kräfte des Marktes. Der Prozess der regionalen Integration in Europa, als Phänomen der Einschränkung nationalstaatlicher Macht, und gleichsam als Fremdkörper in der kosmopolitischen Logik der Überlegenheit eines supranationalen, zentralistischen Systems.

1.6. Die politische und funktionale Krise der Vereinten Nationen: Die Institution befindet sich im Spannungsfeld zwischen der traditionellen Logik intergouvernativer Diplomatie, den jüngsten universalistischen Bestrebungen zum Schutz von Individualrechten (Der vorletzte UN-Generalsekretär Kofi Annan bezeichnete insoweit das Individuum, anstatt des Staates als neuen Träger "internationaler Souveränität") und den Hegemonialstrategien der Großmächte, mit ihrem Bestreben, die internationalen Institutionen ins Abseits zu drängen oder sie zu instrumentalisieren. Die Notwendigkeit, die Rolle der Vereinten Nationen sowie der Bretton Woods Institutionen (Internationaler Währungsfond, Weltbank, WTO) zu überdenken. Die abnehmende Relevanz des UN- Sicherheitsrats nach den Anschlägen vom 11.September und in Anbetracht der "Präventivkriegsdoktrin" der USA und weiterer westlicher Mächte.

1.7. Der Schutz der Rechte von Individuen, kulturellen Minderheiten und Völkern auf nationaler und internationaler Ebene. Das Problem sozialer und demografischer Verwerfungen, ausgelöst durch Globalisierungsprozesse. Das Fehlen einer entsprechenden Formulierung von kulturellen Minderheitenrechten als "Kollektivrechten" im Völkerrecht, welche sich nicht auf die Individualrechte der Angehörigen der jeweiligen Minderheit beschränken. Der Kampf gegen Todesstrafe, Folter, unmenschliche und entwürdigende Haftbedingungen, Genozid, Ethnozid, Frauen- und Kinderhandel, Ausbeutung und Armut. Das Problem der Auslandsschulden, welches zur Unterdrückung der ärmsten Länder beiträgt. Die grundlegende Veränderung des "Sozialstaats" zum "Strafstaat". Dieser verheißt Sicherheit vor allem durch die Schaffung von öffentlicher Ordnung und Unterdrückung von normabweichendem Verhalten und schwächt gleichzeitig die öffentlichen Instrumente sozialer Solidarität.

1.8. Internationale Strafgerichtsbarkeit: Begleitet von einem internationalen Polizeiapparat (und einem universellen Strafgesetz) sollte internationale Strafgerichtsbarkeit einen fundamentalen Beitrag zu Frieden und der Wahrung von Menschenrechten leisten. Von den Anfängen mit den Internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokyo, über die ad hoc Tribunale von Den Haag und Arusha, bis hin zum IstGH (Sein Statut wurde im Juni 1998 in Rom angenommen, seitdem haben es über 100 Staaten ratifiziert). Euphorie/ Skepsis in Anbetracht der rechtsglobalistischen Perspektive einer lex mundialis strafrechtlicher Art. Die Effekte der globalen Machtexpansion internationaler Gerichtshöfe in Abwesenheit von internationalen Politikstrukturen, die auf Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung basieren.

1.9. Das "humanitäre Völkerrecht" und die Doktrin der "humanitären Ingerenz": Die Notwendigkeit zur Überwindung des westphälischen Prinzips zur Beachtung der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit der Nationalstaaten. Verpflichten die Friedensgarantie, die Gerechtigkeit und der Menschenrechtsschutz die internationale Gemeinschaft zum militärischen Tätigwerden ohne Rücksicht auf die Grenzen staatlicher Souveränität? Ist das Streben nach Frieden und der Wahrung von subjektiven Rechten kompatibel mit dem Einsatz von militärischer Gewalt, sowie dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen?

2. Interkultureller Dialog

Während des letzten Jahrhunderts war die italiensche und europäische Rechtsphilosophie ethnozentrisch geprägt, nur bezugnehmend auf die staatlichen Rechtssysteme und wenig realistisch in Bezug auf die sozialen Funktionen des Rechts (Überwiegen der moralistischen, idealistischen und formalistischen Strömungen).

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die europäische Rechtsphilosophie von der angloamerikanischen Rechts- und Politikkultur dominiert. Sie hat insbesondere die theoretische Reflektion (und die soziologische Untersuchung) über Völkerrecht und den Dialog mit nicht-westlichen, kulturellen, ethischen und juristischen Traditionen vernachlässigt. Neben der theoretischen Reflexion möchte Jura Gentium sich im direkten, kritischen Dialog und durch konstruktive Zusammenarbeit mit den Repräsentanten der nicht-westlichen Kulturen und normativen Systeme engagieren. Insbesondere mit der indo-amerikanischen, der arabisch- islamischen und der chinesisch- konfuzianischen Kultur. Diesem Vorhaben liegt nicht naiver, transnationaler Pazifismus zu Grunde. Vielmehr ist er getragen vom Bewusstsein sowohl von der Unmöglichkeit der Überschreitung der kulturellen Wurzeln jedes denkenden und sprechenden Subjekts- in unserem Fall der europäische Wurzeln-, als auch von der Unmöglichkeit einer perfekten interkulturellen Verständigung. Genau dies macht jedoch den Dialog zwischen den diversen Kulturen notwendig, informativ und fruchtbar. JURA GENTIUM hat insbesondere die folgenden Ziele:

2.1. Die historisch- philosophische Entwicklung des Völkerrechts zu überdenken: Die antiken Völkerrechtsordnungen, der Begriff des jus gentium, die mittelalterlichen Doktrinen des bellum justum, die zweite Scholastik, das jus publicum europeum, das moderne Völkerrecht und seine Institutionen. Die Gegenüberstellung von westlichen und nicht-westlichen Rechts- und Politikinstitutionen.

2.2. Die Erstellung einer rechtsphilosophischen und rechtssoziologischen "Landkarte" der nicht-westlichen Rechtssysteme, die weit über die Vergleichung des positiven Rechts hinausgeht.

2.3. Das Postulat von der Universalität der Menschenrechte aus juristischer, ethischer und philosophischer Sicht zu diskutieren (u. A. die Frage der Asian Values). Horizonterweiterung zum Thema der "Exportierbarkeit" des Rechtsstaatsmodells (rule of law), der repräsentativen Demokratie und allgemein, der Werte und Lebensstile inspiriert durch westlichen Individualismus, Formalismus und Liberalismus.

2.4. Der anthropologischen Debatte Aufmerksamkeit widmen, die sich mit dem Problem des kulturellen Relativismus und der Frage "kultureller Universalen" beschäftigt. Weiterhin das Thema der "Verwestlichung der Welt", ein heute von den Massenmedien favorisiertes Phänomen, dessen Multiplikatoren hauptsächlich multinationale Corporations aus der westlichen Welt und Japan sind. Jura Gentium möchte auch der feministischen Kritik am westlichen Rechtsformalismus und am Begriff der Menschenrechte Ausdruck verleihen.

2.5. Die Analyse der Gründe und Konsequenzen des Migrationsphänomens hervorgerufen durch globale Integrationsprozesse. Die gewaltigen Migrationsströme aus Entwicklungsländern in Industrienationen und die darausfolgenden Phänomene der Entwurzelung, der kulturellen Verarmung, das chaotische Wachstum großstädtischer Peripherien, Arbeitslosigkeit und organisierte Kriminalität. Die Definition von Ausländerrechten und deren Verhältnis zu den Staatsangehörigenrechten der alteingesessenen Mehrheiten. Intoleranz, Xenophobie, Rassismus. Die linguistische und kulturelle "Kreolisierung".

3. Verbreitung und didaktische Assistenz

JURA GENTIUM widmet sich insbesondere den Bedürfnissen der italienischen und ausländischen Studenten, Doktoranten und jungen Wissenschaftler, die sich für Forschungsvorschläge des Zentrums interessieren. JURA GENTIUM sorgt für Basisinformationen und die Auswahl der für den Forschungsbeginn und -Fortgang notwendigen, konventionellen und digitalen Informationsmittel. Es stellt thematische Bibliographien und systematische Buchrezensionen zur Verfügung und assistiert beim Ausarbeiten von Diplomarbeiten und Dissertationen.


Dieser Text wurde im März 2001 zur Gründung von JURA GENTIUM verfasst. Er wurde im Dezember 2002 überarbeitet.

(Übersetzung von Till Bettels und Elisa Orrù).